4.10.1  Der Flächeninhalt ebener Figuren.

Der Flächeninhalt eines Rechtecks sei gleich dem Produkt seiner Seitenlängen. Durch Halbierung an der Diagonale ist damit der Flächeninhalt rechtwinkliger Dreiecke bestimmt; durch Summe oder Differenz solcher Flächen an den Höhenlinien erhält man den Flächeninhalt eines beliebigen Dreiecks. Ein beliebiges Vieleck kann immer in Dreiecke zerlegt werden. Wir können also davon ausgehen, das der Flächeninhalt A(P) eines Vieleckes P definiert ist.

Wir betrachten nun eine beschränkte Menge X in 2. Es sei V Xin die Menge aller Vielecke P, welche in X enthalten sind: P X. Gleichzeitig sei V Xext die Menge aller Vielecke P, welche X enthalten: X P. Für beliebige P V Xin und P V Xext gilt wegen P X P offensichtlich

A(P) A(P).

Geht man hier zunächst auf der linken Seite zur kleinsten oberen Schranke über alle P V Xin und danach auf der rechten Seite zur grössten unteren Schranke für alle P V Xext über, so erhält man

A(X) := sup PV XinA(P) inf PV XextA(P) =: A(X).

Definition 4.10.1. Die beschränkte Menge X 2 heisst genau dann quadrierbar, wenn

A(X) = A(X) =: A(X). (4.75)

Die Grösse A(X) nennt man den Flächeninhalt von X.

Problem 4.10.2. Zeigen Sie, dass für Vielecke die Definition (4.75) des Flächeninhaltes mit der oben genannten gewohnten Einführung übereinstimmt.

Für den Beweis der im folgenden Satz formulierten Additivität des Flächeninhaltes verweisen wir auf Fichtenholz Band 2. Er folgt im wesentlichen aus der analogen Eigenschaft der Flächeninhalte von Vielecken.

Theorem 4.10.3. Es seien X1 und X2 quadrierbare disjunkte11 Mengen. Dann ist die Menge X = X1 X2 ebenfalls quadrierbar und es gilt

A(X) = A(X1) + A(X2).

Wir formulieren nun ein hinreichendes Kriterium für die Quadrierbarkeit einer Menge X.

Theorem 4.10.4. Es sei f R[a,b] eine nichtnegative Funktion und

Xf = {(x,y)|x [a,b] y [0,f(x)]}.

Dann ist Xf quadrierbar und

A(Xf) =abf(x)dx.

Beweis. Für eine Zerlegung δ = {xk}k=0n von [a,b] setzen wir

mk = inf xΔkf(x),Mk = sup xΔkf(x),Δk = [xk,xk+1].

Es sei Δ ̃k := [xk,xk+1[ für k = 0,,n 2 und Δ ̃n1 := [xn1,xn]. Wir betrachten die Vielecke

Pδ = {(x,y)|y [0,m k]fürx Δ ̃k} Xf

sowie

Pδ = {(x,y)|y [0,M k]fürx Δ ̃k} Xf.

Die Flächeninhalte dieser Vielecke sind durch die Darboux-Summen

A(Pδ) = s(f,δ) = kmkΔxkundA(Pδ) = S(f,δ) = kMkΔxk

gegeben. Dabei gilt wegen Pδ V Xfin und Pδ V Xfext

s(f,δ) = A(Pδ) A (Xf) A(X f) A(Pδ) = S(f,δ).

Da f integrierbar ist, so konvergieren sowohl die oberen als auch die unteren Darboux-Summen gegen J =abf(x)dx für λ(δ) 0. Daraus folgt

J A(Xf) A(X f) J

und damit A(X) = A(Xf) = A(X f) = J. □

Auf ähnlichem Wege beweist man folgenden Satz:

Theorem 4.10.5. Es seien (ρ,ϕ) die Polarkoordinaten in 2. Die nichtnegative Funktion f C([α,β], ), [α,β] [0, 2π[ erzeuge die Menge

X = {(ρ,ϕ)|ϕ [α,β] ρ [0,f(ϕ)]}.

Dann ist X quadrierbar und

A(X) = 1 2αβf2(ϕ)dϕ.

Problem 4.10.6. Beweisen Sie Satz 4.10.5.

Aus der Additivität des Flächeninhaltes kann man nun schliessen, dass die Menge

Xf1,f2 = {(x,y)|x [a,b] f1(x) y f2(x)},

welche durch zwei auf [a,b] integrierbare Funktionen f1 und f2 mit der Eigenschaft f1(x) f2(x) für alle x [a,b] gegeben ist, den Flächeninhalt

A(X) =ab(f 2(x) f1(x))dx

besitzt. Verwendet man nun die Konvention des gerichteten Riemann-Integrals, so kann man diese Grösse folgendermassen umformen: A(X) = ab(f 2(x) f1(x))dx (4.76) = abf 2(x)dx +baf 1(x)dx = Xydx. (4.77)

Letztere Schreibweise bedeutet, dass man den Wert der Ordinate y des Randes X über die Verschiebung dx der Abszisse integriert, wobei die Randkurve in mathematisch negativer Richtung (im Uhrzeigersinn) durchlaufen wird. Die Integration über die Strecken (b,f2(b)), (b,f2(b))¯ sowie (a,f1(a)), (a,f2(a))¯ trägt dabei nicht zum Wert des Integrals bei, da sich hier die Abszisse nicht verändert dx = 0.

Insbesondere lässt sich Formel (4.77) auf Gebiete übertragen, deren Rand X nicht mehr durch den Graphen einer Funktion (x,f(x)) sondern allgemeiner durch eine geschlossene Jordansche Kurve X = Γφ der Klasse C1 gegeben sind. Ein Vertauschen der Rolle von Ordinate und Abszisse führt dabei zu der Serie von Identitäten

A(X) = Xydx = Xxdy = 1 2 Xxdy Xydx.

Example 4.10.7. Wir berechnen den Flächeninhalt der Ellipse X, welche durch die Kurve X = Γφ mit φ(t) = (x(t),y(t)), x(t) = a cos t, y(t) = b sin t und t [0, 2π] eingeschlossen wird. Es gilt A(X) = ydx = 02πb sin td(a cos t) = ab02π sin 2tdt = ab02π1 cos 2t 2 dt = πab.

Problem 4.10.8. Berechnen Sie den Flächeninhalt der gleichen Figur mit Hilfe der Formel (4.76), indem Sie deren Rand in der Form y = f(x) darstellen!

11X1 X2 =